Orpheus in Bulgaria

Eingang in die Unterwelt

In den Rhodopen, einem Gebirge Bulgariens, gibt es eine große 175.000 Jahre alte Höhle. Noch immer ist unerforscht, wie groß sie tatsächlich ist. Zwei Taucher wollten ihr Ausmaß erforschen, haben sich in ihre Tiefen verirrt und sind dabei zu Tode gekommen! Das war 1970.

Die Höhle scheint über eine große Anzahl weit verzweigter Höhlensysteme zu verfügen, die tief in die Erde hineinreichen. Weil sie alles, was sich zu tief in sie hineinwagt, in sich zu verschlingen scheint, nennen die Bulgaren sie дяволско гърло (Dyavolsko gurlo), was auf Deutsch Teufelsrachen bedeutet. Darum ist die Höhle legendär.

Griechenland ist einen Katzensprung entfernt und überhaupt kennen die Bulgaren ihre Geschichte und die Mythen, die sich um sie ranken. Die Rhodopen sind ein sagenumwobener Landstrich. Überall gibt es Ausgrabungen: Griechen, Thraker, Römer, Osmanen sind durch die Jahrhunderte hinweg durch das Land gezogen und haben ihre Spuren hinterlassen.

In diesem Sommer bin ich in die Höhle gestiegen und komme nun endlich zu der Geschichte, die Anlass zu diesem Stimmeblog ist: Orpheus lebte der Sage nach in dieser Gegend, die früher Thrakien genannt wurde. Und die Höhle ist der Einstieg in die Unterwelt! Eine geeignetere Location für den Mythos von Orpheus in der Unterwelt lässt sich kaum finden.

Orpheus - Plot

Orpheus ist der Sänger der griechischen Mythologie. Bei Ovid lese ich seine Geschichte noch einmal nach: Zu früh verliert er seine geliebte Braut Eurydice. Sie wird von einer Schlange gebissen und stirbt. Orpheus will ihren Tod nicht hinnehmen, widersetzt sich dem Willen der Götter und begibt sich in die Unterwelt, den Ort zwischen Leben und Tod, in den die Verstorbenen eingehen. Bei Tantalus und Persephone, den Herrschern über die Unterwelt, will er Fürsprache für Eurydice einlegen. Er möchte sie wieder mit ins Leben zurücknehmen. Um das zu erreichen, tut er, was er am besten kann, nämlich Singen! „Während er so sang und zu seinen Worten die Saiten schlug, weinten die blutlosen Seelen“*. „Damals sollten zum ersten Mal die Wangen der Eumeniden von Tränen feucht geworden sein, weil der Gesang sie überwältigte“.

Sein Plan geht auf. Er bekommt die Chance, Eurydice zu retten. Die einzige Bedingung: Er darf sie nicht ansehen, sich nicht umdrehen, wenn sie ihm aus der Höhle folgt. Das klingt doch machbar. Sie läuft, vom Schlangenbiss noch geschwächt, langsam hinter ihm her. Als sie den Höhlenausgang fast erreicht haben (wie wunderbar, in der prächtigen Höhle gewesen zu sein und ein Bild von diesem spannungsvollen Aufstieg aus der Tiefe nach oben vor Augen zu haben!) kann Orpheus nicht länger warten. Er muss Eurydice sehen und wendet sich um. Kaum, dass er das tut, im selben Moment, verschwindet sie und gleitet wieder zurück in die Höhle. Welch eine Tragödie. Er ist verzweifelt und kann sich kaum in sein Schicksal fügen.

Die Tragik

Warum passiert Orpheus etwas so tragisches? – tragisch vor allem, weil er selbst Schuld an der Misere hat. Er hat eine Chance und die Rettung ist zum Greifen nahe. Doch er vermasselt es. Es gab eine klare Ansage, und hätte er sich nicht umgedreht, wäre Eurydice gerettet. Was hat ihn da bloß geritten? Ungeduld oder zu viel Übermut gegen die Götter, Größenwahn, Leichtsinn? Hat er die Vertragsbedingungen nicht ernst genug genommen, war vielleicht sogar misstrauisch?

Oder könnte die Ursache für diesen Impuls in der Sängerpersönlichkeit liegen? Die genuine Kraft eines Sängers liegt darin, im Augenblick des Gesangs alle Energie auf den Ausdruck des Klangs zu fokussieren. Sängerischer Ausdruck ist ein Konglomerat aus Talent, Stimmerfahrung, aber auch aktueller Emotionalität und Intentionalität. Ergebnis individueller Klangvorstellung. Vielleicht ist Orpheus die Fokussierung auf diesen Ausdruck in der heiklen Situation nicht möglich gewesen. Das Setting stimmte nicht. Stimmte ihn nicht. Das vorsätzlich fremdgeleitete Abwarten müssen, das Herauszögern unmittelbarer Impulse des Gefühls, das ihn beim Wiedersehen von Eurydice überwältigt hat – all das widerspricht seiner künstlerischen Natur, irritiert und stört sie derart, dass sich Orpheus zu unüberlegtem Tun hinreißen ließ?

Der Sänger Orpheus ist dafür bekannt, mit viel Gefühl zu singen. Alle, die Ihn hören, verzaubert er. Sein Gefühl rhythmisiert seine Stimme, trägt sie leicht schwingend und macht sie klanglich reich. Vielleicht ist er zuversichtlich singend losgelaufen, in Gedanken an Eurydices Rettung. Er rettet sie, weil er für sie singt, doch beim nach vorne Schauen verliert er plötzlich die Zuversicht auf sie. Er bräuchte sie als Gegenüber. Sie allein kann ihm Zugang zum Klang ermöglichen. Und deshalb muss er sich zu ihr umschauen?

Gerade diese Komplexität, die Unbegreiflichkeit von Orpheus Motivation und Handlung macht die Tragik seiner Geschichte aus. Wie eine Naturgewalt bricht sie über ihn herein – scheinbar unausweichlich muss sie sich an ihm vollenden.

Bei Ovid heißt es schlicht, er sei „besorgt, sie könne ermatten und begierig sie zu sehen“.

Cave!

Der Besuch der Höhle birgt bereits ausreichendes Erzählpotential: angefangen von der Wanderung durch die gigantischen unterirdischen Räume. Mit 110 m Länge ist der бучащата зала (Buchashtata Zala), der „brüllende Saal“ der Größte von ihnen: Nebel, diffuses Licht, dröhnend strömendes Wasser, das von überall zu kommen scheint, Feuchtigkeit, die das Atmen schwer werden lässt. Und die Vorstellung, es sei die Unterwelt, liegt auf der Hand, auch aufgrund ihrer Undurchdringlichkeit. Der Aufstieg von Orpheus und Eurydice: hart und „steil ist er, dunkel und in dichten Nebel gehüllt“ beschreibt Ovid.

Es macht Spaß, sich beim Klettern auf den schmalen, steilen Treppen durch die Höhle vorzustellen, sie wäre lediglich der Zwischenraum, das Fegefeuer, Purgatorium unter dem es noch weiter in die Tiefe geht: Räume unterhalb unserer ErdOberfläche, in denen anderes Leben tobt, andere Gesetze gelten, das Unbekannte, Unbewusste, Unbegreifliche regiert.

Der Blick zurück (Foto: Christian Wendling)

Akustik

Der strukturiert durchbrochene Stein, die schwere Feuchtigkeit und das laute Rauschen der strömenden Wasserkaskaden lässt kaum Hall, geschweige denn Nachhall, zu. Man denkt nicht an ergreifende Gesangsdarbietungen. Sie würden dem Sänger im Halse stecken bleiben. Gegen den brüllenden Saal hätte es der Gesang schwer, überhaupt eigene Resonanzen zu erzeugen. Sackgasse für den Klang. Gut nachvollziehbar, dass der Sänger Orpheus hier nicht den gewohnten Halt und Unterstützung vom der Raumakustik für seine Stimme erfahren hat. Und daher konnte seine Stimme ihm wohl auch nicht das gewohnte Selbstvertrauen geben. Seiner Existenzgrundlage beraubt, fehlte ihm die Zuversicht, weil er keine Resonanz in sich und in seinem Umraum spüren konnte. Lost inmitten spröder, dumpfer Steingrenzen. Grund genug, sich orientierungslos nach Eurydice, der Adressatin seines Gesangs, umzuschauen.

Orpheus Rückzug

Nach dem schuldbeladenen Ende der Liebesgeschichte zu Eurydice hat Orpheus kein Interesse mehr an Frauen, verschreibt sich wieder ganz dem Gesang. Als Publikum erträgt er nur Vögel und die Natur um ihn herum. In körperlichen Liebesangelegenheiten ist er wohl lediglich an jungen Burschen interessiert.

Orpheus Ende

Orpheus wird von den Thrakerinnen getötet, eine alte Grafik, vor langem in Paris auf einem Flohmarkt gekauft

Sein Rückzug wird von seinem Umfeld schmerzlich wahrgenommen. Vor allem verärgert er die temperamentvollen Thrakerinnen, von denen die ein oder andere Interesse an dem schmucken Barden hätte, jetzt, wo Eurydice tot ist. Doch ihre weiblichen Reize zeigen keinerlei Wirkung auf Orpheus. Das können sie nicht hinnehmen und drehen völlig durch. Als erstes richten sie ihre Wut gegen das Zentrum seiner Person: seinen „stimmbegabten Mund“, der mit Stab und Stein attackiert wird. Auch die Vögel, die Objekte ihrer Eifersucht, werden nicht verschont. Es kommt zur Eskalation, bei der alles Herumliegende wie Erdschollen, Harken und Pflüge als Waffen gegen Orpheus eingesetzt wird.

Bis sie ihn schließlich töten, ihn, „dessen Worte jetzt zum ersten mal keinen Erfolg haben, dessen Stimme alles ungerührt läßt“. „Der Mund – o Iupiter! – den Steine erhört, den wilde Tiere verstanden hatten, hauchte die Seele aus, und sie entwich in die Winde“.

Rasend schlagen sie auf ihn ein. Die Glieder seines Körpers liegen über das Schlachtfeld verteilt. Sein Kopf und die Leier, die Haupterzeuger seines Gesanges, landen nach der Schlacht – „o Wunder“ – ­im Fluss Hebrus, der heute Maritza heißt. Einer Legende zufolge soll die Maritza im Gebirge entsprungen sein, weil Orpheus in der Nähe gesungen und dadurch den Felsen Wasser entlockt hat. Und die Strömung dieses Flusses trägt nun den singenden Kopf samt Instrument ins Ägäische Meer. Bald gelangen sie zur Insel Lesbos.

„Treibend, das Haupt, im mittelsten Strom und Strudel des Hebrus,

Rief ‚Euridice’ noch mit lallender stockender Zunge,

Rief entschwindenden Hauchs: „Ach, arme Euridice!‘“ heißt es bei Vergil **.

Nach weiteren Wirren gelangt Orpheus – wieder ganz, aber singen tut er nun nicht mehr – in die bereits bekannte Unterwelt, in den Teufelsrachen. Dort begegnet er Eurydice, die er nun endlich gefahrlos anblicken darf.

Wieder an der Oberfläche

Die zwei Taucher Evstatiy und Sijana, ein Paar wie Orpheus und Eurydike, wiederholen deren Liebestragödie. Eine Steintafel draußen neben dem Eingang zur Höhle erinnert an die zwei. 

*Alle Ovidzitate sind aus: Ovid (2010) Metamorphosen. Reclam, Stuttgart, S. 523ff, S.575ff.

** Vergil wird zitiert aus: Jäger, V.; Sitzmann, A. (1999) Europa erlesen. Plovdiv, Wieser, Klagenfurt