Joni Mitchell pfeift

„Magst du Joni etwa nicht?“ Ich drehte die CD kritisch um, beäugte die Titelliste, „Ach das ist Joni?“ In ihrem Essayband, der nun ganz frisch bei Kiepenheuer und Witsch erschienen ist, beschreibt Zadie Smith ihre erste Begegnung mit der Musik von Joni Mitchell. „Mit zwanzig hörte ich Joni Mitchell – (…) – und begriff sie einfach nicht. Konnte ihr Pfeifen nicht einmal als richtiges „Singen“ einordnen. Es war einfach nur ein Geräusch.“

Aha, also Pfeifen! Hmm? Zadie Smith ist mit Stimmen von Jazzsängerinnen wie Ella Fitzgerald, Joan Armatrading oder Della Reese aufgewachsen: Klare, kompaktere oder fokussiertere, leicht raue Stimmen – daher war Ihr der fragile Klang einer Joni Mitchell völlig fremd: „Bitte mach es aus – ich flehe dich an.“

Frühe Hörgewohnheiten prägen unseren späteren Musikgeschmack und eindrücklich- kindliche Musikerlebnisse begleiten uns unser Leben lang und leben beim Wiederhören in uns auf. 

Was ist denn nun mit dem Pfeifen? Wie lässt sich diese akustische Empfindung, die Zadie Smith beschreibt, erklären? Oft ist die Stimme klar, aber immer wieder mischt sich ein leichtes Rasseln in den Stimmklang. Hervorgerufen wird es durch Wirbelungen von Luft. Sie entstehen, weil die Stimmlippen bei der Phonation nicht völlig schliessen. Es bleibt ein Spalt zwischen den schwingenden Stimmlippen, in dem die Luft sich in den gerade entstehenden Grundton der Stimme als rauschend, säuselndes Geräusch einmengt.
Die Stimme ist daher nicht kraftvoll klar, sondern wird von einem Flirren getragen, das ihn wie ein Schleier durchzieht. Als diffuser Teil des Obertonspektrums beeinflusst dies den Hörer oder die Hörerin – je nach dem ruft es eine beruhigende bis irritierende, anregende bis nervös machende, gar nervende Wirkung hervor.
Außerdem springt die Stimme spielerisch zwischen den Registern hin und her, was ihr ihren experimentellen Charakter gibt, unvertraute Ohren vielleicht aber aufregt oder anstrengt.
Ich finde es großartig! Und auch Zadie Smith und Joni Mitchell „brauchten nur ein wenig Einstimmung“. 

Ähnlich irritiert wie Zadie Smith beim Hören der Stimme von Joni Mitchell werden wohl 1863 die Besucher im Salon des Refusés gewesen sein, als sie erstmalig flirrend impressionistische Malereien gesehen haben. Seh- und Hörgewohnheiten entstehen durch Erfahrung und brauchen eben einige Zeit der „Einstimmung“.

 

Literatur:

Smith, Z., (2019) Freiheiten. Kiepenheuer und Witsch, Köln, S.128, S. 130, S. 145