Grillen zirpen: Megaresonanz aus Minikörper

Grillenzirpen gehört zum Hochsommer wie das Flirren der Sonnenstrahlen, wenn sie durch lichte Stellen der Bäume gleißen. Was gibt´s angenehmeres als diesem Naturspektakel an einem schattigen Plätzchen beizuwohnen!

Steckbrief

Es gibt unzählig viele Grillenarten. Alle sehen unterschiedlich aus, aber alle zirpen. Zum Beispiel werden die Männchen der Feldgrille 19 bis 23 mm lang, die Weibchen 17 bis 22 mm. Sie können springen, tun es aber selten. Ebenso fliegen sie nicht gut. Meist laufen sie.

Ich dachte immer, Grillen säßen in Bäumen, weil das flirrende Zirpen aus der Luft zu kommen scheint. Tatsächlich aber graben sie sich bis zu 20 cm tiefe Röhren in die warme, trockene Erde und halten sich dort auf. Die Höhleneingänge sind wie Megaphone gebaut, die den Schall verstärken, wenn die Männchen lauernd, werbend in den Eingängen sitzen und zirpen.

Grillentalk

Grillen kommunizieren gerne und viel. Doch sind es nur die Männchen, die uns mit ihrem Gesang erfreuen. Sie locken, werben und markieren ihr Revier mit klar festgelegten Codes. Die Fachwelt spricht bei der Tongebung der Grille von Stridulation.

Dabei stellt sie beide Vorderflügel auf und reibt sie rhythmisch gegeneinander.

Neben vielen feinen Adern auf beiden Flügeln haben sich je zwei zu Kommunikationswerkzeugen herausdifferenziert. Und weil der entstehende Ton so schrill ist, heißen diese zwei Flügeladern Schrillflächen. Auf der Unterseite des rechten Vorderflügels befindet sich die sogenannte Schrillader (Abb. 2: 1). Sie ist 4,3 mm (!) lang, hat ca. 140 Zähne und sieht aus wie ein Sägeblatt mit vielen kleinen Zacken. Auf der Unterseite des linken Flügels befindet sich seitlich eine scharfe Kante, die Schrillkante (Abb 2: 2). Diese reibt beim Zirpen sehr schnell über die Zacken der Schrillader auf dem anderen Flügel– wie ein Kamm, den man über eine Tischkante schrabbt. So kommt es zu diesem besonderen Flirrgeräusch.

Abbildung 1: Männliche Grille, die beim Stridulieren ihre Flügel übereinander reibt

Abbildung 2: So in etwa sehen die Werkzeuge für die Stridulation unter den Flügeln aus.

Schrillvariationen

Das Zirpen ist variationsreich und modulierbar wie unsere Stimme!
Es kann

  • je nach der Anzahl der Zacken, die bei der Stridulation verwendet werden, die Schrillphrase verlängern
  • die Anzahl der Impulse rhythmisch variieren, so dass kurze oder lange Impulse abwechslungsreich aufeinander folgen können
  • die Impulse durch Veränderung der Intensität des Schrillens lauter oder leiser werden lassen
  • durch die Frequenz der Reibung über die Zacken die Tonhöhe verändern.

Dynamik

Zirpen kann richtig laut werden. Bis zu 100 dB! – was dem Lärm einer Motorsäge entspricht. Die Stridulation an sich ist eher leise. Laut wird es erst durch besondere Resonanzphänomene auf und unter den aufgerichteten Flügeln. Je nach deren Position verändert sich der Schrillklang. Er wird resonanzreicher, wenn der Abstand zwischen den stridulierenden Flügeln und dem Bauch größer wird.

Nachdem striduliert wurde, wird das Schrill von der Schrillader auf spezielle Resonanzflächen des Flügels übertragen. Für Lautstärke und Tragfähigkeit des Zirpgeräuschs ist vornehmlich die Harfe zuständig: ein diagonales Feld auf jedem Flügel.

Studien zur Bedeutung der Harfe haben ergeben, dass nach deren beidseitiger Entfernung der Schalldruckpegel um ca. 46 dB abgefallen ist. Im Experiment wurden die entfernten Harfen durch dünne „Prothesen“ aus PVC-Folie ersetzt. Danach wurde das Zirpen zwar wieder lauter, aber bei weitem nicht so laut, wie vorher. Da machen wir der Natur nichts vor.

Außerdem gibt es auf jedem Flügel noch ein rundes Feld, den sogenannten Spiegel. Die experimentelle Abtragung der Spiegel ergab, dass er vor allem für die Erzeugung hoher Klanganteile, ab ca. 7 kHz zuständig ist. Die Harfe verstärkt dagegen die niedrigeren um 5 kHz.

Führt man sich noch einmal vor Augen, von welch kleinen Maßstäben wir hier sprechen, kann man nur staunen. Die Erregerfrequenz ist präzise auf die Frequenz des Resonanzkörpers abgestimmt. Die Flügelfläche fungiert wie eine flexible und schwingungsfähige Membran. Von der Stridulation in Schwingung versetzt, schickt sie den Ton als flirrenden Klang weit in die Umgebung der Grille hinaus – Chapeau!

Pitch

Je schneller die Stridulation, desto höher die Schrillfrequenz, desto höher das Zirpen.

Wenn ein Zahn der Schrillader des einen Flügels zweimal pro Millisekunde von der Schrillkante des anderen Flügels getroffen wird, entsteht eine Frequenz von ca. 2.000 Hz. Zum Vergleich: das h‘‘ am Klavier hat ca. 1.000 Hz.

Klangspektrum

Der Lockgesang weist unterschiedliche Intensitätsmaxima auf, die zwischen 4.000 und 16.000 Hz liegen. Das Spektrum des Zirpklanggemischs enthält also viele hohe Obertöne!

Diese Intensitätsdichten in hohen Frequenzbereichen lassen uns Stimmprofis aufhorchen. Denken wir dabei doch an Brillanz, Sängerformanten, an all die akustischen Klangphänomene, die für Funktionalität und Tragfähigkeit der Stimme verantwortlich sind.

In diesem Sinne spricht Gisela Rohmert in Ihrem (heute vergriffenen) Buch „Der Sänger auf dem Weg zum Klang“ dem Zirpen eine tonisierende Wirkung zu. Vor allem unsere Reizselektionszentrale, die Formatio Retikularis, würde von dem spezifischem Klanggemisch angeregt (Rohmert, S. 173). Ähnlich wie die Sängerformanten fördert das Zirpen die Selbstorganisation körperlicher Funktionen (Rohmert, S. 106). Aufgrund dieser anregenden Wirkung auf das menschliche Gehirn wurden die Grillenklänge in der Mystik als göttlich bezeichnet.

Der flirrende Klang lässt an die Funktionale Brillanz denken. Als brillant werden die hohen Klanganteile in der Stimme bezeichnet, die für die Tragfähigkeit des Klangs im Raum verantwortlich sind. Und sofort liegt die Vermutung nahe: Aha! Der Schrillklang trägt so weit, weil seine Obertonstruktur derart gut gebaut ist. Mit seinem Klangspektrum von 5 bis 16.000 Hz liegt es ziemlich genau in dem Bereich, in dem sich auch die Sängerformanten befinden. Diese liegen bei ca. 3.000, 5.000, 8.000 Hz, evtl. sogar noch bei 12.000 Hz.

Amplify your voice

Eine tragfähige, weitertragende und klangvoll helle Sängerstimme, „die mit diesen Formanten ausgerüstet ist, weist in der Tat einen insektenhaften zirpenden Anteil im Klang auf, der diesem auffallende Größe und gleichzeitig sprühende Leichtigkeit verleiht. Dieser Anteil vermag sowohl das Gehirn zu koordinieren als auch den Körper zu tonisieren“ (Rohmert, S. 172 f). Können unsere Stimmen vom Zirpen der Grillen lernen? Können wir uns von den hohen Klanganteilen berieseln lassen, so dass das Obertonspektrum unserer Stimmen angereichert wird? Kann das skandierend rhythmisch pulsierende Flirren des Zirpens unserer Stimme Lebendigkeit und Leichtigkeit geben? Es wäre einen Versuch wert.

Genres

Ehrlich gesagt habe ich die Unterschiede des Zirpens noch nicht genau herausgehört, aber es gibt drei biologisch determinierte Funktionale Varianten des Grillengesangs:

1. Lockgesang

  • wenn sich Spermien gebildet haben und das Männchen begattungsbereit ist
  • 50 bis 200 m weit zu hören
  • etwa vier rasch aufeinander folgenden Schrills, rhythmisch getrennt, staccato
  • von Mai bis Juli

2. Rivalengesang

  • eine lange Folge gleichartiger Schallsignale
  • wird der Rivale nicht vertrieben kommt es zu heftigen bis tödlichen Kämpfen

3. Werbegesang

  • eher leise
  • kurze Impulse, die in unregelmäßiger Folge und mit unterschiedlicher Lautstärke

Hören

Die stumme Grillenfrau besitzt keine Zirpinstrumente. Ist sie paarungswillig, nähert sie sich einem Männchen und lauscht aufmerksam seinem Werben.

Grillen lauschen übrigens mit Ohren, die in den Vorderbeinen sitzen. Die Ohren haben sogar Trommelfelle, die auf die Laute reagieren. Der Gesang des Verehrers wird genauestens ob seiner Würdigkeit geprüft. Nur wenn ihr gefällt, was sie hört, gibt sie sich hin und besteigt den auserwählten Barden.

Scheu

Sobald Grillen jedoch eine Erschütterung am Boden verspüren, verschwinden sie in ihrer Höhle. Daher bekommt man sie nur selten zu sehen.

Genießen wir also das Zirpen, wenn wir es hören. Und lassen uns vom ihm anregen, tonisieren, und ist „dein inneres Ohr geöffnet, so hörst du ein unaufhörliches Klingen, das dich über die Grenzen von Verstand und Materie hinausführt“ (Rohmert, S. 173f).